4.1 Die Zeit danach.. Part 2

 

     Daheim auf Kou warten zu müssen, war von einem Traum weit entfernt.


    Tedd wälzte sich auf dem Sofa herum und starrte zum x-ten Mal auf sein Handy. Es war halb neun und von Kou keine Spur. Üblicherweise war er um diese Uhrzeit längst daheim.. um genau zu sein, kam er meist gegen 20:28 Uhr an. Heute war er schon zwei Minuten überfällig!! Tedd juckten schon die Finger, wie schließlich jeden Tag, um Kou anzurufen, oder ihm eine SMS zu schicken, wo er denn nur bleibe.. aber dann fiel sein Blick auf Kous Krawatte, die auf dem Tisch lag.. und er legte das Handy wieder hin.

 

     Kou wird kommen. So wie jeden Abend. Er wird zu ihm kommen. Zu ihm. Nach Hause. 

     Da, wo er hingehört.

     Kou wird kommen. Er wird seine Laptoptasche auf den Tisch legen. Dann wird er seine Krawatte lockern. Er legt sein Jackett ab und zieht sein Hemd aus. (Die Schuhe hat er natürlich längst nicht mehr an..) Während er sich eines der vielen "Tedd-Forever"T-shirts überzieht, die er von Tedd bekam, geht er in die Küche und kocht etwas. Dann essen sie gemeinsam zu Abend und unterhalten sich. Dabei sitz er, Tedd, natürlich auf Kous Schoß. (In diesem Haushalt wird in der Regel nur ein Stuhl benutzt.. es sei denn, einer von den beiden ist sauer.. was seit dem Anfang der neuen Beziehung noch nicht vorgekommen ist.) Nach dem Essen kuscheln sie ein wenig auf dem Sofa, bis Kou einfällt, dass er noch etwas wichtiges fertig schreiben muss, also verzieht er sich in eine Ecke und vertieft sich in die Arbeit und seinen Laptop, während Tedd entweder einen langweiligen Horrorfilm, oder die nächste Runde Final Fantasy über sich ergehen lassen wird.. Spät in der Nacht werden sie noch heiß duschen, gleichzeitig (oder danach) noch ausgiebig Sex haben. Die Nacht verbringen sie in einer innigen Umarmung und wenn Tedd am Morgen aufwacht, ist Kou längst wieder bei Rich&Poor/Poor&Rich.. hat es aber bei all der Morgenhektik vorher dennoch geschafft, ein paar frische Pfannkuchen für Tedd zu machen...


   Tedd seufzte und ließ sich auf den weichen Teppich fallen (seine Lieblingsstelle). Jedes Mal, wenn er in Gedanken den Ablauf ihrer gemeinsamen Tage auswertete, hörte sich alles nach stinklangweiliger Routine an. Dabei war das Leben mit Kou nicht langweilig. Es war.. ruhig.. aber niemals langweilig.
    Es war nur zu wenig..
   Sie kehrten natürlich nicht in Kous alte kleine Wohnung im Japanviertel zurück. Diese Wohnung hatte Kou Simon überlassen und Tedd wollte der dämlichen Zuckerpuppe, die so viel Chaos in ihre Leben gebracht hatte, niemals wieder begegnen. Deswegen blieben sie beide zur Abwechslung in Tedds Wohnung, die für ein Liebesnest, wie sie es sich immer gewünscht hatten, am besten geeignet war. Tedd war natürlich neugierig, wo Kou seit ihrer Trennung im Winter gewohnt hatte; Kou machte allerdings ein großes Geheimnis darum und verriet Tedd nur so viel, dass es sich um eine gewöhnliche Wohnung handelte, in der er todunglücklich war. Offensichtlich jedoch nicht so unglücklich, wie er behauptete, denn er behielt die Wohnung auch weiterhin. Er verbrachte zwar jeden Abend mit Tedd, aber obwohl der ihm unter anderem einen großen Teil seines Kleiderschranks zur Verfügung gestellt hatte, behielt er den größten Teil seines bescheidenen Inventars weiterhin in seiner geheimen Wohnung.
     Tedd hielt es am Anfang für eine Provokation (es erweckte nämlich den Anschein, als würde Kou sich dafür wappnen, ihn jeder Zeit wieder verlassen zu können), aber Kou erklärte ihm schließlich, dass sein Vater ihn seit dem Prozess im Auge behalte und er die Wohnung als Tarnung behalten müsse.
     Noboru Yagi. So hieß der Vater von Kou und Norio. Tedd ist ihm noch nie begegnet, aber er hasste ihn, seit Kou ihn das erste Mal erwähnt hatte. Bei seinem Namen hatte Tedd immer vor Augen, wie unfair der alte Yagi seine Söhne behandelt hatte und er erinnerte sich auch immer wieder daran, dass Kou dank ihm einige schwere Jahre durchmachen musste.


   Moment mal, meldet sich jetzt die treue und aufmerksame Leserin, da war doch ein gewisser Anruf, oder etwa nicht?
   Ja, war er.. und gleichzeitig war er das nicht.. Norio, das alte Schlitzohr, hatte diesen Scheinanruf nur gemacht, um Kou einen Ruck zu geben. Wer tatsächlich geglaubt hat, dass Norio seinem Bruder so etwas antun würde, nachdem dieser ihn vor der qualvollen Existenz eines Liebessklaven auf irgendeiner gottverlassenen Insel gerettet hatte, der hat sich eine falsche Meinung über ihn gebildet ^_^ (oder diese nie geändert). Norio hatte während seiner Gefangenschaft von seinem ehemaligen Assistenten Daniel Seniq die ganze Wahrheit erfahren (die Rede ist von dem vermeintlichen Verrat von Kou und den Demotapes). Er fühlte sich schuldig, dass er seinem Bruder all die Jahre nie geglaubt hatte. Und obwohl er seine halbe Existenz für ein Leben mit Tedd gegeben hätte, entschied er sich dazu, seine Schuld gegenüber Kou zu begleichen. Er fing sofort damit an, denn die Liste war lang..
   Als er vorgetäuscht hatte, ihren Vater angerufen zu haben, tat er Kou und insbesondere Tedd damit einen Gefallen. Es dauerte ganze zwei Wochen, bis der Schwindel aufflog.. und für Tedd war diese Zeit wie ein Paradies. Da Kou davon überzeugt war, dass sein Vater ihn bald ersuchen würde, um ihn für immer zu verstümmeln, lebte er jeden von den vierzehn Tagen so, als wäre er sein letzter. Sprich: er liebte Tedd bis zum Geht-nicht-mehr; er öffnete sein Herz weit, wie eine Museumstür, und ließ Tedd in fast jede verborgene Abteilung hinein. Stundenlang hielt er ihn in den Armen, küsste, liebte oder streichelte ihn; genauso lange konnte er einfach am Bettende sitzen und Tedd beim Schlafen beobachten.. unfähig, die süße Wahrheit zu akzeptieren, dass er endlich das besaß, was ihm so lange verwehrt wurde.. nein.. was er sich selbst nicht gegönnt hatte..

 

   Kou definierte seine Gefühle nicht durch Körperkontakt, das war einer der Gründe, wieso Tedd sich so unwiderruflich in ihn verliebt hatte und diese Liebe selbst nach dem schrecklichen Theater, damals im Park, nicht ablegen konnte. Wie er schließlich heraus gefunden hatte, erging es Kou nicht anders.. Simon hatte vor einiger Zeit zu Tedd gesagt, dass Kou einer von der Sorte Menschen sei, die nur an die eine wahre Liebe glauben. Tedd hielt dies zuerst für übertrieben, aber im Nachhinein merkte er, dass Kous Gefühle für ihn selbst nach all den Jahren rein und ehrlich blieben. Kou wollte und konnte nie einen anderen Mann lieben und als er das bei Simon versuchte, belog er sich nur selbst.
   Seit er Tedd letztes Jahr begegnet war, spielte Kou ihm ein Theater vor. Gekränkt von dem, was in der Vergangenheit geschehen war, war es ihm egal, wie alles enden würde. Er hatte nicht im Entferntesten gehofft, das Spiel als Gewinner verlassen zu können. Jetzt musste er sich nicht mehr verstellen; anders als bei dem ersten Versuch, eine Beziehung mit Tedd einzugehen, besaß er einen wichtigen Anhaltspunkt, an dem er sich mit all seinen Sinnen festhalten konnte. Tedds Liebe war stark genug, um all seine Mängel auszuhalten. Sie war auch nie anders gewesen. Es dauerte nur länger, bis er es eingesehen hatte.


   Und nun war die Gefahr da, all das wieder zu verlieren. Als Kou nach den besagten zwei Wochen und einem anschließenden - vorsichtig geführten - Telefonat mit seinem Vater klar wurde, dass er von Norio nur verarscht wurde, und sein Vater weiterhin keine Ahnung von der sexuellen Orientierung seines jüngsten Sohnes hatte, ist ihm erstmals ein Riesenstein vom Herzen gefallen. Gleichzeitig überkam ihn wieder die alte Unsicherheit - was wird passieren, wenn es denn tatsächlich eines Tages ans Licht kommt?
  Also unternahm er alles Mögliche, um das zu verhindern. Er flehte Tedd erneut, ihre Beziehung geheim zu halten, ging auf jeden albernen Kompromiss ein, den Tedd nach langen Diskussionen gestellt hatte (Pfannkuchen und Sex jeden Tag, um nur die Bekanntesten zu nennen). Er war immer äußerst vorsichtig, wenn er sich am Ende jedes Tages in Tedds Wohnung hineinschlich, versuchte in der Öffentlichkeit Abstand vom Thema Tedd Jigsaw oder Dominik Esmond zu halten, und so weiter und so fort..  Tedd ärgerte sich offen darüber und drohte Kou damit, bald die Wahrheit hinaus zu posaunen, wenn nötig, sogar direkt vor dem großen alten Yagi.. aber es reichte ein einfaches "Wenn du das tust, dann sehe ich dich vielleicht nie wieder", von Kou, das Tedd an seine Albträume erinnerte, in denen der alte Yagi Kou kidnappte und neuerdings an einem geheimen Ort versteckt hielt, womöglich bis zum Ende aller Tage.. Also biss Tedd sich auf die Zunge, und beschloss, sich nicht in die Sache zwischen Kou und seinem Vater einzumischen.. Vorerst nicht.. Dies bedeutete allerdings, dass er sich nicht öffentlich zu seiner Liebe zu Kou bekennen durfte.. und das machte ihm am meisten zu schaffen.

 

    Auf dem Flur war der leise Ton des Aufzugs zu hören. Tedd sprang mit einem Satz auf und eilte zur Tür. Paar Sekunden später hing er auch schon um Kous Hals.

 

 

 

 

 

 

 

    Kou lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, wobei er seine Haare durch wuschelte.
   "Du kommst immer später!" maulte Tedd weiter, jedoch in einem äußerst zufriedenen Tonfall. "Wenn das so weiter geht, kann ich für nichts garantieren!!"
   "Wer hat mich denn heute eine ganze Stunde lang im Büro beschäftigt?" fragte Kou belustigt und zog an Tedds Wangen. "Es dauert nun mal einige Zeit, bis man nach so einem Erlebnis wieder in die Gänge kommt!"
    Tedd schnurrte zufrieden.

 

    Kou brachte Pizza und Sushi mit, weil er zu müde war, um zu kochen. Sie kuschelten sich in den großen Berg von Tedds Kissen hinein (von Kou auch heimlich Pascha-Ecke genannt, weil sie einen Harem ähnlichen Charakter hatte) und vergaßen erneut für eine Weile die Welt um sich herum.
    "Hast du dich entschlossen, ob du deine Mutter besuchst?" fragte Kou später.
   "Nein." Tedd kauerte sich auf seinem Kissen zusammen, als wäre er plötzlich von Schüttelfrost ergriffen. "Das heißt, ich gehe nicht hin. Jedes Mal, wenn ich zu ihr gehe, starren wir uns nur stumm an. Sie will mir etwas sagen, aber sie.." kann es nicht..
    "Du weißt, dass sie dich um Verzeihung bitten will," sagte Kou und griff nach seiner Tasche. Tedd beobachtete ihn, wie er einige Akten raus nahm und seufzte etwas. Er hasste es, wenn Kou seiner Arbeit nachging.
     Aber Kou legte die Tasche auch sofort weg. Er schaute die Papiere, die er herausgefischt hatte, kurz an und reichte sie dann Tedd. "Was ist das?" fragte dieser.
     Kou ließ sich zurück in die Kissen fallen. "Dein Geburtstagsgeschenk."
     Es war jetzt Anfang November.
     "Ich habe doch erst am Ende - " fing Tedd an, während er schnell das Deckblatt der Akte überflog. Er überhörte Kous "Ich weiß". Mit einem starren Blick ließ er schließlich die Papiere auf den Boden fallen.
     "Das.. ist nicht dein Ernst, oder?" sagte er mit zittriger Stimme.


      Es war eine Besitzurkunde.
     Eine Besitzurkunde für sein altes Haus; das Haus, in dem er aufgewachsen war; in dem er von seinem Stiefvater jahrelang gequält und misshandelt wurde. Auf diesem Stück Papier stand, dass er von nun an das Haus besitzt, in dem sein Bruder getötet wurde.
    Für einen kurzen Augenblick wurde alles um ihn herum still. Als wäre der ganze Raum mit dumpfen schwarzen Wolken gefüllt. Ein Schatten der Erinnerung erhob sich aus dem Nichts und kreiste langsam über der Urkunde.. Das ist ein Scherz. Das kann nur ein böser Scherz sein. Kou ist nicht so perfide, um ihm so ein geschmackloses Geschenk zu machen!!
     Kou nahm Tedds Hände in die seinen und küsste ganz zärtlich seine Fingerspitzen. Er hielt sie fest, obwohl Tedd zuckte, um sich zu befreien.

    "Tedd.. das Haus wird nächste Woche abgerissen."

 

   Tedd schenkte ihm einen verwirrten Blick.
   "Das Grundstück wurde vor einiger Zeit an eine Privatperson verkauft, die dort wasweißichwas bauen will. Ich dachte, dass du dabei sein möchtest, wenn das Haus zertrümmert wird.. und dass du vielleicht vorher noch.. die alte Wohnung besuchen möchtest. Wie ich gehört habe, hat dort seit dem Vorfall keiner mehr gewohnt.."

    Tedd brauchte ein paar Minuten, um zu antworten. "Wieso.. sollte ich das wollen?"
    "Um loslassen zu können," meinte Kou. "Vielleicht sogar endgültig.." Er wusste besser als sonst jemand, dass die Nächte sehr grausam zu Tedd sein konnten.  "Natürlich nur, wenn du es möchtest.." fügte er hinzu und zog ihn in seine Arme.

 

     Das Gebäude, welches einst als ein gut gepflegtes Mehrfamilienhaus diente, war leer. Der gelbe Putz bröckelte von den Wänden massiv ab, wie außen, so auch innen. Drinnen war es kalt und staubig. Dreckig. Unangenehm. Draußen nieselte es und der Wind blies die Regentropfen durch die kaputten Scheiben hinein. Strom und Wasser waren längst abgestellt worden.
     Benjamin Esmond folgte den Stufen in den vierten Stock. Jeder Schritt erinnerte ihn an die Zeit, in der er als Kind in diesem Gebäude gewohnt hatte. Es waren gute Zeiten dabei; die schlechten überwogen jedoch. Als Kind war er sich dem vollen Ausmaß der Tragik, die sich hier vor Jahren abgespielt hatte, nicht bewusst, umso mehr quälten ihn jetzt die ganzen Erinnerungen und Erkenntnisse, die mit dem traurigen Leben in diesem Haus verbunden waren.  
     Die Tür zu der Wohnung, die er suchte, stand offen, wie letztendlich alle Türen im Gebäude, und die Leere der einzelnen Räume gähnte ihn an. Bis auf ein paar alte, unbrauchbare Möbel war hier nichts mehr vorzufinden. Ben fixierte mit seinen Blick kurz eine bestimmte Stelle im Flur, die in seiner Erinnerung mit Blut beschmiert war und visierte dann einen kleinen Raum an, der sich weiter hinten im Flur befand.
     Sein Bruder saß dort im Staub, an einer Stelle, auf der sich einst sein Bett befunden hatte. Auf dem staubigen Boden vor ihm lächelte eine frische Zeichnung eines Teddys. Tedd nahm Bens Präsenz wahr, starrte jedoch weiterhin nur die Zeichnung an, die er mit einem Finger in den Staub gekritzelt hatte. Beide schwiegen sie, bis Ben sich bückte und dem Teddy einen Heiligenschein verpasste.

 

     Er merkte, wie Tedd sich mit dem Ärmel zwei große Tränen aus den Augen wischte.
    "Ich.. habe mal einen Bericht im Fernsehen gesehen, in dem es darum ging, dass sich die Seelen der Verstorbenen dort aufhalten, wo sie umgekommen sind.", sagte Tedd mit leiser Stimme. "Ich habe gehofft, ich könnte ihm Lebewohl sagen.. Aber so sehr ich es versuche, ich kann ihn hier nicht spüren."
    Die Rede war von Mark, ihrem Bruder, der im Alter von fünf Jahren von seinem Vater und Tedds jahrelangem Peiniger in einem Wutrausch getötet worden war. Es geschah auf unglückliche Weise, was jedoch die Tat weder rechtfertigen, noch entschuldigen konnte. Carim Esmond bezahlte diese Untat mit seinem eigenen Leben.
   Ben grinste traurig. "So etwas Bescheuertes glaubst du? Mark würde niemals an so einem dreckigen Ort verweilen. Ich wette, er schwebt längst über dem himmlischen Teich und macht Jagd auf flauschige weiße Bären." Tedd lächelte bei der Vorstellung und nickte zustimmend. "Wir müssen hier raus. Die Demolition-Men da draußen sind schon ungeduldig.. Willst du noch was kaputt treten oder so?"
    "Nein." Tedd stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose. Mit Ben an den Fersen lief er noch schnell durch die einzelnen Räume und verabschiedete sich still von seinem alten Zuhause. Die Bitterkeit dieser Tat lag schwer in der Luft, aber er zog es durch. In einer Ecke bemerkte er schließlich eine vergessene alte Murmel. Er erinnerte sich daran, wie Ben ihm einst sagte, dass diese Wohnung nach dem tragischen Vorfall nie wieder weiter vermietet werden konnte. Mona ist mit ihren Kindern noch im selben Jahr, in dem Mark und Carim starben, weg gezogen. Nach und nach verschwanden auch die anderen Bewohner aus diesem Haus, in dem so viel Grausamkeit verrichtet wurde; manche wurden vom eigenen Gewissen geplagt, andere mit Angst oder Ekel erfüllt. Fast ein Jahrzehnt lang hatte hier keiner mehr gewohnt.
   Tedd wollte die Murmel als Andenken mitnehmen, aber Ben zog ihn schnell aus der Wohnung raus. "Dein dämlicher Anwalt hat mir befohlen, dich daran zu hindern, irgendetwas von hier mitgehen zu lassen.. Fürsorglicher geht's wohl nicht.. Hat ziemliche Angst um dich, weißt du das? Dennoch möchte ich wissen, was ihm das Recht gibt, mich rumzukommandieren! Den knöpfe ich mir noch vor, das schwöre ich dir!!"


    Der dämliche Anwalt wartete draußen und unterhielt sich mit Anika, die sich nicht dazu überreden ließ, die Wohnung ein letztes Mal zu besuchen.

   Als Tedd und Ben sich zu ihnen gesellten, sagte er zu Tedd: "Ich hab mit den Leuten da ausgemacht, dass du das Zeichen geben darfst." Er zeigte auf mehrere Arbeiter in blauen Schutzanzügen, die ein Stück weiter versammelt waren. Einer von ihnen zeigte etwas ungeduldig auf die Uhr an seinem linken Handgelenk.
    Bevor Tedd etwas zu seinem fürsorglichen, dämlichen Anwalt sagen konnte, zog der sich zurück und ließ die drei Geschwister alleine. Tedd beobachtete ihn, wie er zu seinem Wagen ging, wo Norio auf ihn wartete. Norio war auch gekommen, um Tedd in diesem Moment beizustehen. Hätte er früher gewusst, was Sache war, hätte er das Haus samt Grundstück vermutlich selbst gekauft und längst dem Erdboden gleich gemacht. Aber Tedd hatte mit Norio nie über seine Vergangenheit gesprochen und so musste Norio sich damit begnügen, dass er in diesem, für Tedd wichtigen Moment, dabei sein konnte.

     Ben und Anika nahmen jeweils eine Hand von Tedd und aus einer sicheren Entfernung schauten sie dem Abriss zu, der nach einem zögerlichen Zeichen von Tedd erfolgte. Die Wände brachen mit lautem Krachen schnell zusammen.. eine Wolke aus herum wirbelnden Staub erhob sich hoch hinauf. Es dauerte nur einige Minuten, bis das gesamte Grundstück unter den Trümmern begraben war. Die Geschwister bemühten sich um ausdruckslose Mienen, aber allen dreien entwichen kleine Tränen, welche den wenigen schönen Erinnerungen nachtrauerten, die mit ihrem ersten Zuhause verbunden waren.

   "Heulsuse!"

  Ben stieß seine Schwester sanft in die Rippen.
  "Selber!"

  Sie schlug nicht ganz so sanft zurück.

 

 

 

 

 

 

 

 

  Tedd sagte kein Wort.

 

     Tedd parkte Kous Wagen vor dem Friedhof. An diesem besonderen Tag erlaubte Kou ihm, hinterm Steuer zu sitzen, was so viel bedeutete, wie dass er ihm sein Leben anvertraute XP. Beide stiegen sie aus, passierten das große Eingangstor des Friedhofs und schlenderten langsam an den vielen verschiedenen Grabsteinen vorbei. Die Luft war kühl und roch noch ein wenig feucht, aber es nieselte nicht mehr. Die Sonne lugte hinter den Wolken hervor und die frischen Regentropfen, die sich hier und da noch auf dem kalten Stein gesammelt hatten, glitzerten im schwachen Sonnenlicht.
    Sie waren allein. Norio hatte sich vorhin angeboten, Ben und Anika nach Hause zu fahren. Die Geschwister waren bereits gestern am Grab von Mark gewesen, also fuhren sie mit, da Anika zur Theaterprobe musste und Ben Karate-Training hatte. Seit Mona in der Haft war, wohnten sie beide in Tedds Nähe, und verbrachten so viel Zeit zusammen, wie sie nur konnten.

  Marks alter Grabstein wurde letzten Monat durch ein kleines Marmordenkmal ersetzt. Eine Gravur, mit Blattgold belegt, zierte die glänzende schwarze Platte, in der ein kleiner Teddybär eingemeißelt war. Am Tag, an dem diese Veränderung stattgefunden hatte, waren sie das einzige Mal alle vier anwesend.. die drei Geschwister und ihre Mutter. Sie hätten gern noch ein Foto von Mark auf dem Grabstein angebracht.. aber sie hatten keines gehabt. Was ihnen übrig blieb, waren nur die Erinnerungen an ihn..

    Um den Grabstein herum wurde gleichzeitig eine Sammlung von wetterfesten Mini-Teddybären platziert. Tedd erweiterte die Gruppe jetzt um einen weiteren Teddy, wie jedes Mal, wenn er Marks Grab besuchte. Dann strich er sanft über den Namen auf dem schwarzen Marmor. Es hatte lange Zeit gedauert, bis Marks Ruhestätte die Würde bekam, die sie verdient hatte. Tedd hatte das Gefühl, als könnte er nie mehr damit aufhören, seine Finger über die kalte Platte mit Marks Namen darauf gleiten zu lassen..
   Kou kniete sich neben ihn. Etwas zögernd zog auch er eine Spielzeugminiatur aus der Tasche. Tedd musste lächeln, als er merkte, dass es ein Großer-Bruder-Bär war. Kou bat ihn mit den Augen um Erlaubnis und Tedd nickte zustimmend. Der "große" Mini-Bär nahm einen Ehrenplatz mitten im Teddy-Kreis ein.

    "Ich weiß, er gehört da optisch nicht hin," entschuldigte sich Kou. "Aber er wird auf die Racker aufpassen.."

 

 

   Tedd war der Meinung, dass der Großer Bruder genau dort saß, wo er hingehörte.. behielt es aber für sich, denn es hatte keinen Sinn, sich mit Kou über so etwas Belangloses wie Optik zu streiten.

    Sie verbrachten einige Minuten in Stille vor dem Grab. Kou war schon mehrmals mit Tedd hier gewesen, denn seit dem Prozess besuchte Tedd Marks Grab öfters, als Ausgleich dafür, dass er früher nur so selten kommen konnte. Beim ersten Mal hatte Tedd ihn dem unsichtbaren Mark vorgestellt und Kou erfuhr so einiges über sich, denn wenn Tedd über etwas am Grab sprach, dann war es natürlich Kou. Er hatte Kou gezwungen, sich vorzustellen und mit Mark ein Plauderstündchen zu halten.. (genauer gesagt war es natürlich ein Plauder-Monolog). Heute gab es nicht viel zu erzählen, nur Smalltalk und dass das Haus nicht mehr existierte.. (und dass Kou immer noch zu lange arbeitete und keine Zeit für Tedd hätte, und dass Kou dies und dass Kou das..)
    Nach einiger Zeit begab Tedd sich auf den Weg zum Ausgang. Kou hielt ihn auf. "Zeig mir heute auch, wo er liegt."


   Tedd konnte ihm die Stelle nicht zeigen. Er wusste nicht, wo Carim begraben war. Und es interessierte ihn auch nie. Am Tag, an dem Carim und Mark beerdigt wurden, war er bereits in Haft. Er hatte damals mit allen Kräften dagegen protestiert, dass Mark in einem gemeinsamen Grab mit seinem Vater endete. Zum Glück entschied die Kirche, trotz der Tatsache, dass sie zu der Zeit noch im Glauben war, dass Tedd/Dominik die Schuld an beiden Morden trug, dass ein Kinderschänder sein Grab nicht mit einem Kind teilen durfte..
   Kou wollte Carims Grab unbedingt besuchen, also fragten sie einige Besucher, die sich gerade auf dem Friedhof aufhielten, aber keiner konnte ihnen helfen. Schließlich zeigte der Friedhofswärter, ein freundlicher alter Mann, der sich noch an den Tag der Beerdigung erinnern konnte, auf eine abgelegene Ecke des Friedhofs.

     Carims Grab war ungepflegt, und so dicht mit Disteln und anderem Unkraut bewachsen, dass man den Namen auf der Steinplatte nicht lesen konnte. Es sah aus, als hätte sich kein Mensch je hierher verirrt, nicht einmal Mona war hier gewesen. Keine einzige Grabkerze stand hier.. kein Hinweis darauf, dass Carim je so etwas wie ein Teil einer Familie gewesen war.

 

 

   Kou entfernte vorsichtig das Unkraut vom Grabstein, damit Carims Name vollständig zu sehen war. Tedd, der darin keinen Sinn sah, schaute weg.

    Kou kehrte zu ihm zurück und putzte sich die Hände ab. "Wenn du willst, kannst du etwas zu ihm sagen."
    Tedd traute seinen Ohren nicht. "Was willst du von mir? Ich habe ihm nichts zu sagen! Du wolltest doch sehen, wo er liegt! Rede du doch mit ihm und lass mich da raus!" Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde er so richtig sauer auf Kou, der ihn zu so etwas zwingen wollte.
    "Du hast recht," sagte Kou. Er nahm einen Stein und warf ihn gegen Carims Grabmal. Dann nahm er noch einen Stein und tat mit ihm das gleiche. Mit dem dritten und vierten auch. Tedd schaute ihm dabei überrascht und verwirrt zu. Mit jedem Stein wurde Kous Wurf schwungvoller und präziser, so dass die Steine direkt auf Carims Namen landeten.
    "Hör auf damit!" Tedd packte Kous Arm und hinderte ihn somit am nächsten Wurf.

 

    Kou lachte. "Das sowieso. Ich freue mich sogar darauf. Und ich hoffe, ich begegne ihm dort. Dann war das hier nichts dagegen, was er dort von mir erwarten kann.." Kou befreite sich von Tedd und warf weitere Steine gegen das Grab. "Scheißkerl!.. Wichser!.. Bastard!!.. Arschloch!!" Mit jedem Stein sandte er gleichzeitig auch ein Schimpfwort in Richtung von Carims Grabmal. "Ich hoffe, du krepierst da sowas von schmerzvoll!.. Ich hoffe, die Würmer fressen dich bis auf den letzten Knochen auf!!.. Sadistisches Schwein!!..."
    Die Steine hinterließen auf dem alten ungepflegten Grab kleine Kratzer. Kou wurde es nicht müde, immer weiter zu werfen oder immer größere Steine zu benutzen.. Tedd stand neben ihm und obwohl er versuchte, seine Tränen zu unterdrücken, rannen sie irgendwann doch über sein Gesicht. Geliebter Kou! Er sprach genau das aus, was Tedd schon immer in die Welt rausschreien wollte. Er tat all dies für ihn. Weil er sich um ihn sorgte.. und ihn beschützen wollte.. Weil er ihn liebte..
    Und er hatte recht. Auch Tedd würde garantiert irgendwann in der Hölle landen. Selbst wenn man ihm alles verzeihen würde.. er müsste sowieso dahin, wenn er die Ewigkeit mit Kou verbringen wollte.. Es gab nichts zu verlieren.

*hust* tolle Animation *hust2*
*hust* tolle Animation *hust2*

    Tedd nahm endlich auch einen Stein und warf ihn, etwas zögerlich, gleichzeitig mit Kou gegen das Grab. Für den zweiten brauchte er nicht so lange. Beim dritten löste sich die Anspannung. Die Furcht verschwand. Stattdessen fühlte er, wie eine tonnenschwere Last von seiner Brust fiel. Schon warf er weitere Steine, einen nach dem anderen; befreit von der Last, die ihm so lange auf dem Herzen gelegen hatte warf er weiter, er warf und warf und warf...

   .. bis er verschwitzt und erschöpft auf die Knie fiel. Er verlor dabei aber kein Wort. Wozu auch? Kou hatte schon alles gesagt.
   "Bist du in Ordnung?" Kou, der vorhin mit dem Steinwerfen aufgehört hatte, um Tedd die volle Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, kniete sich besorgt zu ihm.
    "Ja", antwortete Tedd und sank in seine Arme.
   Seine kleine Genugtuung hatte er tatsächlich zu Ende gebracht.
   Kou hielt ihn ganz fest. "Du kannst gern noch mehr -"
   "Nein. Ich glaube, ich bin jetzt erlöst," flüsterte Tedd.

    Carim war ihm kein einziges Wort wert. 

   Plötzlich wusste er: Er war frei. Frei von Carim, frei von der Angst vor ihm, frei von der Unsicherheit und auch von den schlimmen Erinnerungen an ihn.. Ganz und gar werden sie sicherlich nie verschwinden.. aber er hatte jetzt keine Angst mehr.. weder vor den Albträumen, noch vor Carims Schatten, der sich sein Leben lang hinter ihm her gezogen hatte. Er hatte keine Angst, solange Kou da war. Und er würde dafür sorgen, dass es auch nicht anders wird. In Kous Armen würde er eines Tages friedlich sterben. Das war das einzig akzeptable Ende, das er sich für sein Leben wünschte..

 

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